Dr. Joachim Kreibohm in Kunstmagazin NIKE 1995

“Die Kehrseite einer Medaille, anderen Formulierungen und Charakteren auf die Spur zu kommen, hat mich schon immer interessiert." (Tilmann).
In der Mehrteiligkeit sieht der Künstler Möglichkeiten, sich einem Thema in vielfältiger Weise zu nähern: Malerei, Zeichnung, Grafik sind in dieser Weise komponiert. Diaoge finden statt - Tafeln agieren und reagieren, kontrastieren und korrespondieren. Das Interesse des Künstlers gilt den Beziehungen von Ordnungen, Systemen, Formulierungen unterschiedlicher Sprache und Dialekte. Positionen, die mit agieren, Berührungspunkte, bestimmte Verwandtschaften oder Strukturen haben, werden zu einem größeren Ganzen, quasi zu einer Persönlichkeit. In der Gesamtsicht ergeben sich mehrteilige, multivalente Beziehungsfelder. Die Arbeiten zielen auf eine Balance divergierender Bezugsmöglichkeiten und stellen die Balance dieser Kräfte zugleich wieder in Frage. Aus dieser Ambiguität schöpfen die Arbeiten ihre Spannung.
Die Farbpalette umfaßt vornehmlich gebrochene Töne, die mit weißen, grauen oder schwarzen Grundflächen verbunden werden. Farbschichten liegen übereinander und durchdringen sich, das einmal Gesetzte wird zur Durchsicht gebracht. Verdichtungen stehen ausgedünnten Randzonen gegenüber. Plane Farbtafeln sind mit pastosen konfrontiert, bemalte Flächen mit ausgesparten. Wirbel, Farbstrudel einerseits und beruhigte Flächen andererseits stehen sich gegenüber. Nicht mehr an assoziative Inhalte gebunden, werden Farben zu Energie- und Materiefeldern. Auch die roh belassene Leinwand wird unmittelbar zum Element der Komposition. Tilmann beherrscht den Einsatz von bildnerischen Zeichen und Formen, spielt mit kalligrafischen Elementen, setzt in meist diffuse Farbfelder sich auflösende, vage umrissene geometrische Zeichen. Das Vokabular: Quadrat, Rechteck, Kreis, Halbkreis, Kreuz, Spirale. Zeichen werden virtuos variiert, spielerisch der Umgang: leicht und beiläufig, präzise und klar umrissen, fragmentarisch und verschwommen.
Als einzelne Zeichen oder seriell angeordnet, heben sich diese Zeichen deutlich von hellen Gründen ab und haben sich in dunklen zu behaupten. Zeichen innerhalb eines Ensembles bilden Polaritäten, werden wiederholt oder variiert.
Ebenso wie in den Leinwänden bilden geometrische Formen das Vokabular der Zeichnungen. Kreis, Halbkreis erscheinen in Verbindung mit rechteckigen, schwarz und grau modulierten Flächen oder mit nahezu aufgelösten Quadratformulierungen. Zeichen, auf der Rückseite aufgetragen, scheinen in seltsam gedämpften Farben durch die Papiere. Eine eigenartige Stimmunge wird erzeugt, Zeichen erscheinen aufgelöst und verschwommen, haben einen samtigen und perligen Charakter. Mit einer Nadel werden dem Papier Schnitte zugefügt, Bögen gefaltet, so daß Knicke entstehen. Verletzungen des Papiers, Wunden, Schnitte und Knicke, mal horizontal, mal vertikal, bilden ein Lineament, überziehen und gliedern das Papier, trennen und verbinden gleichermaßen. Zum einen sind Zeichen intuitiv gesetzt, zum anderen werden sie immer auf ihre Haltbarkeit, Präsenz überprüft. Tilmann ist bewußt, das Quadrat, Kreis und Spirale Bedeutungsträger von spezifischen Inhalten sind. Weniger interessiert ihn die inhaltliche Bedeutung dieser Symbole, um so mehr wird der Künstler von ihrem Formcharakter emotional angezogen. Eine Spirale, die sich aus einem Zentrum, einem Farbfleck kontinuierlich weiterentwickelt, gibt ihm das Gefühl endloser Kontinuität. Ein fragmentarisch formuliertes Quadrat vermittelt ihm das Gefühl von etwas Gebautem, von etwas Gehäuseartigem, von Schutz und Wärme.
Einerseits sind Bildelemente wie Quadrat und Kreis als etwas Festes und Selbstständiges wahrzunehmen, andererseits verlieren sie ihre Verläßlichkeit, denn im Zusammenhang mit dem anderen oder durch Bezüge zu anderen Formulierungen sieht man das Gleiche anders. Zeichen können gleichermaßen Kreuze wie auch angedeutete Quadratformulierungen sein, der Kreis kann ausgrenzen oder eingrenzen, abgrenzen oder gliedern, ausschließen oder einschließen; so haben die Einschnitte und Knicke der Papierarbeiten trennenden wie verbindenden Charakter.
Die bildnerischen Ebenen sind entzerrt. Keine Übereinanderlegung, vielmehr ein Nebeneinander - aber kein beziehungsloses Nebeneinander der gefundenen Zeichen, Formen und Maße, sondern ein labiles Gleichgewicht. Die Haltbarkeit der verschiedenen Ordnungen und Formulierungen wird ausgelotet; nicht klassische Proportionen interessieren, vielmehr reizen den Künstler Grenzsituationen. Das Entweder-Oder ist zugunsten eines Sowohl-Als-Auch aufgehoben. Das Dogma des Minimalismus “The whole is it³ trifft nicht zu. So ist das Ganze mehr als die Summe der einzelnen Elemente. Die Arbeiten sind an die aktive visuelle und reflektive Teilhabe des Betrachters gerichtet, erfordern von ihm ein geduldiges Sehen, dem allein sich die Arbeiten von Jobst Tilmann erschließen.

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