Unschuld des Werdens

Tilmanns Form-Findungen, Ingo Meyer 2015

Ingo Meyer

Aus der „Unschuld des Werdens“ heraus.

Zu Jobst Tilmanns neueren Form-Findungen

 

Wer Tilmanns Werkgeschichte verfolgt, ist an scharfe Richtungswechsel gewohnt: von der fast ausschließlichen

Arbeit auf Papier während der 1990er zum Ende des Jahrzehnts Holztafeln, deren

feintonige Valeurs von rasterartigen Lineaments überdeckt und konterkariert werden, über die asketisch-

orthogonalen Exerzitien seiner „Felderwirtschaft“1 in den Serien der Jahrtausendwende (Besserwisser,

Nervensache, Tag & Nacht)2 zu den Bildern seit 2008, die eine bisher unerhörte Bewegung

in das Verhältnis von Farbe und Form bringen. Sie stehen hier im Fokus.

Wie immer man sich diesen Artikulationen nähert, „unerbittlich“3 sind sie nicht mehr. Der Einstieg

gelingt am besten über den Vergleich, nicht nur die Wiege aller Wissenschaft, sondern ebenso Grundoperation

der Kunstliteratur. Man hat Tilmann mit dem Minimalismus und der Art concrète in Bezug

gesetzt,4 angesichts der jüngeren Arbeiten aber drängen sich Affinitäten zum deutschen Informel auf.

Sämtliche Genannten verstehen das Bild als „Aktionsfeld“,5 die Dominanz des Interesses verschiebt

sich vom Thema zum Malakt und der Erprobung von Materialität selbst,6 das ist zudem guter

Konsens der Moderne.

Ähnlich wie viele der Informellen schafft Tilmann, teils mit Besen

und Rakel, auf dem Mal- einen Verfügungsgrund reiner Farbigkeit in mehreren „Schüttungen“ und

Verwischungen,7 provoziert Konstellationen, Kontraste, Korrespondenzverhältnisse. 

So ist Tilmanns Pinselfaktur auch nicht eigentlich gestisch, sondern kontrolliert;

ebenso finden sich keine pastosen Exzesse wie etwa bei Kazou Shiraga oder dem Gegenständlichen

Frank Auerbach, die ihre wahrhaft tektonischen Farbgebirge nicht selten zentimeterdick in den Raum

ragen lassen. Ebenso abhold ist Tilmann der Intention etwa Karl Otto Götz', Formen „explodieren“ zu

lassen,9 vielmehr wird das Gegenteil angestrebt. Gewiß, „[was nicht in der Farbe sichtbar ist, ist

überhaupt nicht“,10 doch nachdem Tilmann die Bildfindung in einem 'call and response' zur Hälfte an

die Eigenaktivität des Materials delegiert hat, geht er auf die Suche nach interessanten Stellen,

Verdichtungen, Protoformalisierungen als Ertrag dieser Interaktion, halb dem Zufall entsprungen,

halb von der organisierenden Hand des Künstlers geschaffen. Tilmann, der von sich nicht ganz

unironisch sagt, er habe keine Phantasie,11 bedarf nicht der Stütze von Vorzeichnungen, die Form-

Findungen entstehen aus der Bewegung und Farbe heraus, was mit der im ästhetischen Bereich noch

 

1 So treffend Michael Stoeber, „Ein Ziel haben und es wollen. Zu den neuen Werken von Jobst Tilmann“, in: Jobst

Tilmann, L'appétit vient en mangeant, Gütersloh 2011, unpag. [5-8, hier: 5].

2 Vgl. Jobst Tilmann, Alltagsbilder. Leinwände, Hannover 2001; Voyage. Jobst Tilmann – Malerei, Robert Schad –

Skulptur, Coesfeld u.a. 2002.

3 So Britta A. Buhlmann zu den Arbeiten seit ca. 2000, vgl. dies., „Jobst Tilmann – auf unterschiedlichen Ebenen atmen“,

in: Voyage, a.a.O., 6-16, hier: 6.

4 Etwa Dagmar Schmidt, „Vitale Strukturen und geometrische Konstruktion“, in: Jobst Tilmann, Tafeln, Hameln 1998,

unpag. [5-7, hier: 6]; Stoeber, a.a.O., 7.

5 Tayfun Belgin, „Was ist Informel? Eine Annäherung über Bildkategorien“, in: Die Kunst des Informel: Malerei und

Skulptur nach 1952, hg. v. dems., Köln 1997, 32-41, hier: 33.

6 Christoph Zuschlag, „Undeutbar – und doch bedeutsam. Überlegungen zur informellen Malerei“, in: Brennpunkt Informel.

Quellen, Strömungen, Reaktionen, hg. v. dems., Hans Gercke u. Annette Frese, Köln 1998, 38-44, hier: 39.

8 A.a.O., 101.

9 Karl Otto Götz, Erinnerung und Werk, Düsseldorf 1983, Bd.1b, 515.

10 Max Raphael, Wie will ein Kunstwerk gesehen sein? (1940/1968), hg. v. Klaus Binder, Nachw. v. Bernd Growe, FfM

1989, 19.

11 Ich stütze mich auf ein Gespräch mit Tilmann vom 24. August 2015.

 

 

wenig erforschten, weil hochsubjektiv-prozeßorientierten Aufmerksamkeitslenkung zu tun hat.12 Nun

erst beginnt die eigentliche Konstruktion, Georg Simmels spätes Diktum: „Sehen ist Weglassen“13

mag hier den Weg in ein notorisch zur Metaphorik neigendes Gebiet weisen: Tilmann, der vom

Unterstreichen, dem Abwägen von Klängen und Gewichten bis zur 'Passung' spricht, markiert bzw.

isoliert die prägnanten Areale über, man möchte sagen, Einsprüche ins Kolorit, die gesehene Form

wird verbindlich. Daß dies ausgerechnet mittels eines lichten Graus geschieht, für Tilmann die

„neutrale“ Farbe, doch in romantischer Tradition des Kolorismus gerade diejenige, die „alle Farben

beschmutzt“14 und noch für Kandinsky trostlose Unbeweglichkeit symbolisierte,15 sorgt allein schon

für hinreichende Spannungsverhältnisse. Von zurückhaltenden Markierungen wie in Conte 1-2

(2011/15) bis zur gro.zügigen Überdeckung der ursprünglichen Farbgewitter – Cache 1b von

2012/15 zeigt ein weit vorangeschrittenes Stadium der Lust des Negierens – reichen die Eingriffe in

die koloristische Ursuppe.

Gottfried Boehm hat sich in letzter Zeit der Negation als basalem Vollzug jedes bildlichen Gestaltens

zugewandt, hier zumindest ist damit etwas Triftiges erfaßt.16 Mehr noch, Tilmanns Einsprüche folgen

durchaus den drei Aspekten des Hegelschen Begriffs der Negation als 'Aufhebung',17 indem sie 1. den

Grund beseitigen (invisibilisieren), 2. ihn als Latenz der Bildtiefe18 gleichwohl bewahren und 3. das

Negierte auf eine höhere Stufe, nämlich in den Gesamtzusammenhang des Artefakts heben.

Tilmann beschreitet freilich auch den umgekehrten Weg der Inversion, die Pulpe- und Sur le Bord-

Serien der jüngsten Zeit nehmen auf informellen Schüttungen in Schwarzweiß Formsetzungen von

außen vor: An Prokaryonten, Plasmatisches erinnernde „Interventionen“ in pastelligen Tönen machen

sich anheischig, den Bildträger zu erobern oder besetzen ihn gleich konsequent mittig. Der Eindruck

dieser Bilder ist sehr viel kontemplativer, obwohl es manchmal auch hier um die Suggestion reiner

Kinetik, tanzende Farben und Formen, zu gehen scheint, die den stärksten Arbeiten etwa der Ulysseoder

Autour-Serie trotz aller Gewichtung des struktiven Aspekts eignen; ein Spiel mit Positiv-

Negativverhältnissen auch hier, wahrhaftige Dialektik des Bildens.

Noch ein Wort zur Farbe. Tilmann, der nie die Askese Sonderborgs (Schwarz mit roten Akzenten)

oder Thielers Beharrlichkeit in der Erkundung ewig gleicher Akkorde aus Weiß, Blau und Rot teilte,

hat sich von der Beschränkung auf Primärfarben in früheren Zeiten gelöst und, trotz aller Unterschiede,

wie der fast feminine Bernard Schultze, zur 'ganzen Palette' gefunden.

Obwohl er solch Ansinnen wohl zurückwiese, glaube ich doch, daß sein langjähriger Aufenthalt in

Südfrankreich das Farbgefühl zumindest sensibilisiert hat, er stünde damit bekanntlich in bester

Tradition. Die Befreiung der Farbe, bis das Bild als „optisches Energieprodukt“ erfahrbar wird, das zu

zeigen vermag, „wie Stabilität fortwährend sich einstellt, fortwährend geschieht“, ist nun einmal die

Errungenschaft der Franzosen;19 noch der in der Farbe sonst so zurückhaltende Götz entwickelte im

einschlägig betitelten Zyklus Giverny aus den mittleren achtziger Jahren eine Palette von frappanter

Buntheit,20 Tilmann setzt in jüngster Zeit lichte, pastellige Töne, die ihn nach eigener Auskunft selbst

überraschen.

 

12 Ansätze bei Berhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, FfM 2004.

13 Georg Simmel, Lebensanschauung (1918), in: Ders., Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, FfM 1989ff., Bd.16

hg. v. dems. u. Gregor Fitzi, FfM 1999, 209-425, hier: 270; diesem Diktum verwandt die Extraktionstheorie der

Wahrnehmung von James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979, 147, 238ff.

14 So Philipp Otto Runge, Brief an Unbekannt, 1807 oder 1808, in: Ders., Schriften, Fragmente/Briefe, hg. v. Ernst

Forsthoff, Berlin 1938, 123-134, hier: 127.

15 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1912), Einf. v. Max Bill, Bern 91970, 98f.

16 Gottfried Boehm, „Dunkles Licht. Über ikonische Negation“, in: Das neue Bedürfnis nach Metaphysik, hg. v. Markus

Gabriel, Wolfram Hogrebe u. Andreas Speer, Berlin/N.Y. 2015, 239-259; ich habe darauf z.T. kritisch reagiert, vgl.

Ingo Meyer, „Respondenz zum Beitrag von Gottfried Boehm“, a.a.O., 261-272.

17 Hegel, Wissenschaft der Logik I (1812/16), in: Ders., Werke, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, FfM

1986, Bd.5, 113f.

18 An die Latenz des Bildes wurde in letzter Zeit wieder erinnert, allerdings etwas unglücklich im Rahmen einer Handlungstheorie

mit mißverständlich animistischen Obertönen, vgl. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter

Adorno-Vorlesungen 2007, FfM 2010, 21, 52. Dazu meine Besprechung „Pikturale Kosmologie. Horst Bredekamps

'Theorie des Bildakts'“, in: Merkur 65 (2011): 349-354.

19 Max Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987, 149.

20 Vgl. nur Karl Otto Götz, Malerei 1935-1993, hg. v. Horst Zimmermann, Dresden 1994, 147-157.

 

 

Fraglos ein Highlight der Produktion aber sind die plastischen Einzelformen. Wer Tilmanns Atelier 

betritt, bemerkt noch vor den aktuellen Arbeiten und dem imposanten Archiv

diese monochrom gehaltenen, die Wände gleichsam bevölkernden dreidimensionalen Objekte, die

unverkennbar Formfindungen aus den Gemälden wiederholen und in den Raum hinein verabsolutieren.

Mir ging es so wie in „Eduards Traum“ beim Eintritt in die geometrische Welt, deren Bewohnern

bei fehlendem „Kongruenzamte“ ob ihres Wunsches, Tiefe zu gewinnen, vom Magistrat

barsch beschieden wird, sich „gefälligst in die dritte Dimension [zu] bemühn, und die Symmetrischen

erst recht!“21 Herausgelöst und vereinzelt, man merkt, hier greift auch das Grundprinzip der Groteske,

allerdings weder im Bachtinschen noch Kayserschen Sinne,22 sondern als durchweg fröhliche

Figuration.23 Tilmann beschäftigt, ob seine Formen aus dem zweidimensionalen Malgrund

heraustreten und sich „in der Welt zu bewähren“ vermögen.24 Sie können's allemal, doch sei auch

gesagt, daß sie, massiert auftretend, ihre eigene Welt konstituieren. Muß man sich mal anschauen.

Der Eindruck, daß Tilmann an einem Alphabet, einer Grammatik von Formen arbeitet, wie gerade an

der rezenten Serie von Gouachen in Schwarzweiß ohne Titel kaum zu übersehen, kommt mir nicht als

erstem,25 doch wenn man dieser zunächst bloß analogisierenden Metapher nachdenkt, wird die

fundamentale Differenz klar: Während Alphabete Lautwerte, also bereits existente phonetische

Entitäten, einem Zeichen zuordnen und noch Götz' frühe Fakturenfibel, später seine 'Schemata', minimale

grafische Aufhänger für den in Sekundenschnelle vollzogenen Farbauftrag liefern sollen,26

haftet, mit Nietzsche, an Tilmanns Formen die „Unschuld des Werdens“,27 sie sind Kreationen ex

nihilo, künstliche Zeichen der Malerei, fernab jeder Mimesis oder externen Referenz,28 rein aus der

Kunst geboren, daher nicht konventionalisiert, sondern auf ihren Inhalt, nämlich Sinnfüllung, allererst

noch wartend. Wenn man also Semiotik bemüht,29 kommen sie de Saussures Aposèmen, den

materialen 'Hüllen' oder Trägern der Zeichenrelation, noch am nächsten.30

Das klingt natürlich schauderhaft, die Altmeister des Informel waren viel hemdsärmeliger: „Hoehme:

'Nur in der Höhe der Dechiffrierung liegt das Geheimnis.' Götz: 'Ja genau.' Schultze: 'Richtig.'“31

Vielleicht bietet sich anläßlich von Tilmanns Konfigurationen und Gestaltbildungen eher die Rede

von der Hieroglyphe in romantischer Tradition an. Bei Wackenroder und Tieck ist sie die Sprache des

Göttlichen,32 bei Friedrich Schlegel bezeichnet sie das unnachahmliche Kolorit der alten Meister,33 bei

Heine das geheime Wissen der Väter um die Befreiung, das sich einer oberflächlichen Betrachtung

 

 

21 Wilhelm Busch, „Eduards Traum“ (1891), in: Ders., Ausgewählte Werke, hg. v. Gerd Ueding, Stuttgart 21996, 525-590,

hier: 537.

22 Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbek 1960, 27, 35, 38, 45, 111, betont die beklemmendbodenlose

Welt der Groteske, Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur,

München 1969, 26, 32, 48f., 51, die umgestülpt-deformierte.

23 Ich unterscheide Figuration, die auch der Abstraktion eignet, vom Gegenständlichen.

24 Tilmann im Gesprach vom 24. August 2015, vgl. aber schon Stoeber,, „Ein Ziel haben“, a.a.O., 8.

25 So Stoebers Beitrag in: Tilmann, Alltagsbilder, a.a.O., 4-7, hier: 7, mit explizitem Hinweis auf Chomsky und de

Saussure.

26 Proben in Karl Otto Götz, hg, v. Joachim Jäger u.a., Köln 2014, 50f., ferner 36.

27 Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd.10: Nachgelassene

Fragmente 1882-1884, 11.

28 Zur Debatte um die 'künstlichen Zeichen' Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre

symbolischen Formen (1966), Stuttgart 31987, 238ff. Insofern kann ich Stoebers, „Ein Ziel haben“, a.a.O., 8,

Annahme, Tilmann liefere „gültige ästhetische Formen für die anthropomorphe Verfasstheit der Welt“, nicht folgen, es

sei denn, man wolle – mit Kant trivial – darauf abstellen, daß der Mensch nur erkennen kann, was er erkennen kann

und insofern notwendig die Welt nach seinem Bilde schafft.

29 Persönlich halte ich von reiner Semiotik nicht viel, weil Bilder immer mehr geben als zeichenförmig zugerichtete

Informationen, vgl. Ingo Meyer, „Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik“, in: Merkur 67 (2013): 191-204, hier:

195.

30 Gisela Fehrmann, Verzeichnung des Wissens. Überlegungen zu einer neurosemiologischen Theorie der sprachgeleiteten

Konzeptgenese, München 2004, 167ff., hier: 170, hat de Saussures Notate zu ordnen versucht: Es handelt sich

um den „figurative[n] Aspekt sprachlicher Zeichen“.

31 Symposion Informel 8.-12. Oktober 1982, hg. v. Georg W. Költzsch, Saarbrücken 1983, 93.

32 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), hg.

v. Martin Bollacher, Stuttgart 1979, 62.

33 Friedrich Schlegel, „Nachricht von den Gemälden in Paris“ (1803), in: Ders., Kritische Ausgabe, hg. v. Ernst Behler,

Hans Eichner u. Jean-Jacques Anstett, Paderborn 1958ff., Bd.4, 9-47, hier: 20.

 

 

entzieht und nur ekstatischer Hermeneutik zugänglich wäre,34 bei Baudelaire ist „le monde-ci“ unter

Bedingungen des Realismus etwa Courbets bloßes „dictionnaire hiéroglyphique“ einer höheren,

wahrhaft poetischen Kunst, die sich möglicherweise einmal einstellt,35 der verblüffte Carl Jakob

Burckhardt faßte seinen Seheindruck von Wols Aquarellen kleinsten Formats ebenfalls als „Hieroglyphen“.

36

„O wer lesen könnte!“37 – Damit gelangt man zum Problem der Semantisierung. Die allgemein geteilte

Auffassung, abstrakte bzw. informelle Bilder „verweigern sich einer symbolischen Bedeutung,

sie sind als reine Entitäten wahrnehmbar, ohne Verweise“,38 greift ganz so wie Imdahls Traum vom

„sehenden Sehen“ wohl zu kurz,39 denn wo wir wahrnehmen, geschieht dies im Medium des Sinns,

nehmen wir Sinnzuschreibungen vor, wie provisorisch auch immer, ich z.B. erkenne notorisch meist

auch Quasi-Gegenständliches. Die Unabschließbarkeit der Interpretation findet vor dem abstrakten

Bild ihr schönstes Demonstrationsobjekt.

Deshalb soll ein Bild einen Titel haben, vermag er es doch, zumindest eine Tür zum Werk öffnen, zu

seiner dann immerhin möglichen 'Begehung'.40 Wer sich dann verirrt, ist sogar im Vorteil: „Die

Aufgabe eines jeden Titels ist paradox; sie entzieht sich ebenso der rationalen Allgemeinheit wie der

in sich geschlossenen Besonderung. Das wird als Unmöglichkeit der Titel heute offenbar. Eigentlich

wiederholt sich im Titel die Paradoxie des Kunstwerks, drängt sie in sich zusammen. Der Titel ist der

Mikrokosmos des Werkes“.41 Tilmann greift neuerdings gern zur mythischen Allusion oder, bereits

seit einiger Zeit, zum Redensartlichen, die Serie On s'arrange toujours schon von 2001; die kleinen,

konzentrierten Formate Terrain vague (2005), dann Ulysse (episch) von 2008, wahrhaft monumental,

rekurrierend auf den Protagonisten der Such- (und Irr-!)Bewegung par excellence, „Continental Drift“

hätte vielleicht auch nahegelegen; Chants de Sirènes (2008) und Kirke, schlechterdings rätselhaft,

von 2010. „Herbst!“ dachte ich spontan über Disait Casanova von 2011/12 – die Wandobjekte wie

Contour oder Corps dann zeugen noch von milder Ironie, indem sie den Oberbegriff zum Titel dessen

ernennen, was als Artefakt über ihn hinausführt.

Reprise I-VI, hier die Mischtechniken auf Papier, die die großformatigen Kontemplationen quasi erproben.

Nur auf den ersten Blick ist alles still. Reprise I, kennen Sie die Metaphysik des Schwarz?

„Das Schwarz […] entzieht sich selbst der bloß möglichen Bestimmbarkeit; es scheint mit einer

Tendenz begabt, sich jedem Bestimmungsversuch zu entziehen. […] Das Schwarz […] ist der Inbegriff

alles für den Menschen Nichtseienden, ohne daß es deswegen aufhört zu sein, es ist, als ob es

selbst über das metaphysische Sein noch hinauswiese“.42 Es geht natürlich auch bodenständiger, der

Zustand kurz vor der Befruchtung, die schmale Kontaktzone, ins Blau sich aufhellend und differenzierend,

ist chemotaktisch bereits disponiert.

Reprise II wird dezidierter, ein breit, fast unflätig horizontal gelagertes, deutlich gebrochenes Rot im

Oval, diese Formfindung dann noch einmal darüber schwebend und als Dreierpack in die Vertikale

gestellt. Was ist das? Die heilige Dreifaltigkeit und das Blut, Symbol des Vitalismus schlechthin? Rot

jedenfalls ist „'ein Schrei, eine Herausforderung, ein Unbedingtes'“,43 das wird gerade hier erfahrbar,

im Zustand vor dem Ereignis.

Reprise III konkreter; denkbar, daß hier durch das eher tastende Lineament, das einzelne Züge wie-

 

 

34 Heine, „Ludwig Börne. Eine Denkschrift“ (1840), in: Ders., Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, München

1968ff., Bd.4, 7-148, hier: 140, vgl. auch Brief an Varnhagen v. 5. Februar 1840, in: Heine, Briefe, hg. v. Friedrich

Hirth, Mainz 1949, Bd.2, 329f., hier: 330.

35 Baudelaire, „Puisque le réalisme il y a“ (1855), in: Ders., OEuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Paris 1975f., Bd.2,

57-59, hier: 59.

36 Carl Jakob Burckhardt an Max Rychner v. 16. Januar 1946, in: Dies., Briefe 1926-1965, FfM 1970, 97.

37 Heine, a.a.O., 140.

38 Belgin, a.a.O., 38.

39 Z.B. Imdahl, „Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur“ (1979), in: Ders., Gesammelte Schriften Bd.3: Reflexion

– Theorie – Methode, hg. v. Gottfried Boehm, FfM 1996, 424-463, hier: 432, 437f. u.ö.

40 Deshalb ist „O.T.“ oder der Hang der Informellen, kryptische Titel à la XO.537/D2 bzw., wie Sonderborg, nur Datum

und minutengenauen Zeitraum der Niederschrift zu wählen, besonders hinderlich.

41 Adorno, „Titel. Paraphrasen zu Lessing“ (1962), in: Ders., Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, FfM 1974, 325-

334, hier: 326.

42 Raphael, a.a.O., 247.

43 Ernst Jünger, Sturm (1923), Stuttgart 1979, 80.

 

 

derholt bzw. verdoppelt, die menschliche Schädelform konturiert wird, unten rechts daneben die bei

Tilmann häufige, nierenförmige Biomorphie in fast schwärzendem Blau scheint förmlich anzuklopfen.

Ein Memento mori, denn jung sind wir alle nicht mehr?

Wer nun denkt, die Serie schreite in der Konkretisierung voran, gewahrt das Gegenteil, die Stücke IVVI

nähern sich wieder, auch buchstäblich, dem Vaguen: Stilisierte Wolken könnte ein Semantisierungsvorschlag

für Reprise V sein, die runden, in die Vertikale bauenden Formen von No. VI oder

die Wiederholung der triadischen Formfindung von Reprise II in No. IV, mit seinen eigenwillig

pastelligen Akzentsetzungen und den wie sich der Form vergewissernden Bleistiftkonturen, lassen

eigentlich nur noch eine kreisende Sehbewegung zu.

Im Grunde aber, das sollte die historische Tatsache, daß die romantische Kunstreflexion (nicht das

Weimarer Intermezzo) in die Moderne führt, nicht vergessen lassen, verfolgt Tilmann auf der Suche

nach Zuständen der Äquilibration von Farbe und Form ein sehr klassisches Programm. Sein Arbeitsethos

der Tätigkeit, möglichst kein Tag ohne Atelier, mag an Goethes fast metaphysische Aufladung

dieses Begriffs erinnern, auch ist das uralte Ideal eines ausagierten Gleichgewichts von Farbe

und Form zwar niemals ver-altet, aber als Sichtbarkeitsgestaltung doch an den klassischen Werkbegriff

gebunden.44 Die Erstarrung zur bloßen, leerlaufenden „Formalistik“ jedoch, wie sie Simmel am

ganz späten Goethe registrierte,45 ist, eingedenk Tilmanns Richtungswechseln und aktuell seines

Modus operandi, die Ereignisprovokation auf dem Malgrund, kaum zu befürchten.

Man sieht erneut, abstrakte Bilder müssen grooven, sonst taugen sie nichts, noch Mondrians späte

Erstarrungen heißen ja z.B. Broadway Boogie Woogie (1942/43), als sollte der Titel gegenwirken,

die Affinität von Informel und abstraktem Expressionismus zum Jazz ist bekannt,46 von Tilmanns

musikalischen Vorlieben weiß ich nichts. Einer „radikalen Reduktion“47 jedoch frönt er heute nicht

mehr, er nennt sein Telos Purifizierung, was nicht identisch ist. Umso stärker stehen die aktuellen

Arbeiten in Bringepflicht der „Totalevidenz einer Bildgegebenheit“.48 Diese wird – neben den Inversionen

mit ihrer kontemplativen Aura – am jeweils sinnfälligsten wohl bei den kleinformatigen

Stücken (Proben? Essenzen?) voller Tanz und Beschwingtheit aus Reihen wie Autour und Terrain

vague, denn auf diese Weise konzentriert, demonstrieren sie nicht zuletzt, daß sich Tilmanns Verfahren

des Markierens und Negierens innerhalb der Abstraktion überhaupt bewährt. Auch das ist nicht

selbstverständlich, wenn erinnert wird, wie manche Resultate abstrakter, zumal gestischer Malerei nur

auf monumentalem Format beeindrucken, auf handlicheren Bildträgern jedoch eher ein Achselzucken

hervorrufen. Vielleicht finden wir uns in der Mitte, denn mit Valéry gilt von den Musen, „elles

dansent: elles ne parlent pas.“49

Daß bei der Bildbeschreibung die Grenzen der Versprachlichung prinzipiell angelegentlich sind, erweist

sich an den Arbeiten Tilmanns exemplarisch, doch gibt dies keinen Anlaß zur Beunruhigung.

Deskription ist keine mü.ige Übung, sondern läßt erst in der gelungenen Artikulation ästhetische

Wirkung zu sich selbst kommen und schafft damit nicht nur, was sich für die Disziplin Katalogtext

wohl geziemt, „ein neues Stück des Sagbaren“,50 sondern hoffentlich auch ein „beglückendes Gefühl

der Evidenz.“51 Damit kann man sich schon mal einen Abend befassen.

 

 

44 Die Wirkungsästhetik in der Tradition Kants, eines Werkbegriffs nicht bedürftig, kann keine Effekte denken, die aus

einem Äquilibrium hervorgingen – Gleichgewichtszustände senden keine Signale. Zum Stand von Werk- und Wirkungsästhetik

heute Meyer, „Notizen“, a.a.O., 192f.

45 Georg Simmel, „Goethe“ (1912), in: Ders., Gesamtausgabe, a.a.O., Bd.15 hg. v. Otthein Rammstedt, Uta Kösser u.

Hans-Martin Kruckis, FfM 2003, hier: 7-270, hier: 250.

46 Jackson Pollocks White Light von 1954 ziert Ornette Colemans Free Jazz, die Geburt des neuen Genres 1960/61,

Sonderborg fühlte sich immer nah zum Jazz, Coltrane wurde im Guggenheim-Museum gesichtet. Vgl. Nils Ohlsen,

„K.R.H. Sonderborg und der Jazz. Bildnerische Improvisationen in 43 Chorussen“, in: K.R.H. Sonderborg. Maler

ohne Atelier, hg. v. Achim Sommer, Heidelberg 2003, 98-100, hier: 100.

47 Buhlmann, a.a.O., 7.

48 Imdahl, „‚Autobiographie‘“, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd.3, a.a.O., 617-643, hier: 619.

49 Paul Valéry, „Degas Danse Dessin“ (1936), in: Ders., OEuvres, hg. v. Jean Hytier, Paris 1966, Bd.2, 1163-1240, hier:

1165.

50 Otto F. Bollnow, „Versuch über das Beschreiben“, in: Hommage à Richard Thieberger. Etudes allemades et autrichiennes,

hg. v. Zsuzsa Széll u.a., Nizza 1989, 57-75, hier: 63.

51 A.a.O., 62.

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