Ein Ziel haben und es wollen. Zu den neuen Werken von Jobst Tilmann
aus dem Katalog zur Ausstellung L'APPETIT VIENT EN MANGEANT, Kunstverein Gütersloh 2010
Verglichen mit dem der Vergangenheit, ist das Selbstbild des Künstlers in der Moderne einerseits bescheidener, andererseits anspruchsvoller geworden. Bescheiden ist es insofern, als der zeitgenössische Künstler längst nicht mehr glaubt, als Seher, Prophet und Prediger für die Sinnproduktion der Gesellschaft, in der er lebt, zuständig zu sein. Für ihn gilt das schöne Wort von Alexander Kluge: „Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos.“ Er ist heute kein privilegierter Antwortgeber mehr, allenfalls ein privilegierter Fragesteller, begabt mit einem seismografischen Gefühl für die Verwerfungen seiner Zeit. Mit Antworten muss sich der Betrachter seiner Kunst selbst versorgen. Anspruchsvoll ist die Kunst des zeitgenössischen Künstlers aber insofern, als dieser sich als Künstler nicht mehr beauftragen lässt, sondern seine Ehre darin sieht, sich allein selbst zu beauftragen. Mit dem Zerreißen der Fesseln des künstlerischen Auftrags, hat er sich in eine neue Freiheit geführt, die auszufüllen nicht immer ganz einfach ist.
Nietzsche hat einmal gesagt, Genie sei, ein Ziel zu haben und es zu wollen. Es geht also erst einmal darum, als zeitgenössischer Künstler überhaupt eine Vorstellung davon zu entwickeln, wovon man in seiner Kunst handeln will. Wenn Marcel Duchamp am Beginn der Moderne behauptet, es gebe nun keine Kunst mehr, nur noch Künstler und zugleich darauf verweist, die Kostümfeste des Mimetischen seien vorbei und die Kunst der Zukunft habe „konzeptuell“ zu sein, also „Ideenkunst“, dann beschreibt er den Weg, ohne das Ziel zu benennen. Das muss jeder Künstler für sich entdecken und erkennen. Jobst Tilmann hat dieses Ziel stets darin gesehen, sich weniger auf die Gnade der Inspiration zu verlassen und stattdessen auf den Segen eines künstlerischen Systems zu setzen. Ein System, das wie eine Grammatik aus einer Reihe endlicher Regeln besteht und so eine unendliche Zahl künstlerischer Äußerungen zulässt, in denen sich der Künstler wie der Betrachter per Analogieschluss wieder findet.
In der Vergangenheit waren das für Tilmann die Module der konkreten Kunst, die Teilung der Bilder in horizontale und vertikale Felder, der regelmäßige Farbauftrag, immer neue Farbschichten, die Konzentration auf die Primärfarben, die vom Klaren und Geordneten zum Komplexen und Diffusen führten. Und die in dieser bipolaren Spannung die Extreme von rationaler Transparenz und emotionaler Sinnlichkeit in sich bewahren, die exemplarisch für menschliche Verfasstheit und Verhalten stehen. Sodass die Bilder Jobst Tilmans wie von selbst den Sprung machen vom abstrakten Formspiel zum konkreten Beispiel für die Bedingungen der condition humaine. In seinen neuen Werken hat er zu einer gänzlich anderen Phänomenologie gefunden. Als expressive und fragmentarische Kartografien erinnern sie nicht im Geringsten mehr an die orthogonale Felderwirtschaft der Vergangenheit. Und doch scheint auch in ihnen einmal mehr der Mensch auf in seinem grundsätzlichen Oszillieren zwischen unterschiedlichen Positionen.
Formal wie inhaltlich geht es in ihnen um ein „Spiel von Zufall und Liebe“ (Marivaux). Tilmann gießt Farbe auf Leinwand aus oder Tusche auf Papier und schaut, was sein Ingenium mit den Ergebnissen anzufangen weiß. Er handelt dabei nicht anders als der schaffende Weltgeist, der einst Chaos in Kosmos verwandelte. In den, nach dem Gesetz einer écriture automatique, einer automatischen Bilderschrift, entstandenen Werken isoliert der Künstler bestimmte Formen und Motive. Auf den Leinwänden stellt er sie durch zudeckendes und konturierendes Grau frei. Bei den Tuschen nimmt sich der Kohle- und Graphitstift, Pastellkreide, Radiergummi und Gouache einzelner Motive an und hebt sie durch die Mittel von Schraffur, Ausradierung und Übermalung hervor. Nur, um die Formen auf einem weiteren Blatt wie in einem Archiv ordnend nebeneinander zu stellen und zur Besichtigung freizugeben. Oder das bildliche Geschehen als Ganzes mit dem Stift zu umfahren, entweder in einer konstruktiv gezackten oder weich organischen Komposition.
In seiner neuen Werkserie macht der Künstler dabei den Schritt von der zweiten in die dritte Dimension. Es genügt ihm nicht mehr, die Formen spielerisch freizustellen und in immer neue Zusammenhänge zu bringen. Er will ihnen zu einer autonomen ästhetischen Existenz verhelfen, um zu sehen, wie sie sich als Ding in der Welt der Dinge bewähren. Was sich auf Leinwand und Papier einmal als harte und konstruktive, dann wieder als weiche und organische Linie zeigt, manifestiert sich plastisch entweder als aus Textilen gefertigte soft sculpture oder als aus Holz zusammengefügte hard sculpture. Der materiale und konstruktive Gegensatz schreibt die Dichotomien fort, die auch dieser Werkserie von Jobst Tilmann von Anfang an eingeschrieben sind, Zufall und Plan, Regellosigkeit und Ordnung, Generalisierung und Fokussierung. Mit solcher Zuspitzung verlässt das Werk des Künstlers einmal mehr das Reich eines bloßen l´art pour l´art und schafft gültige ästhetische Formen für die anthropomorphe Verfasstheit der Welt.
Michael Stoeber